Noten sind - auch - Konstruktionen

Barbara Lutz-Sikora (c) 1999

Welcher Lehrer kennt nicht dieses Gefühl:

Meine Schülerinnen und Schüler lernen gerade mal für die nächste Arbeit – und dann ist alles weg. „Wer hat Euch denn im letzten Jahr unterrichtet?“ möchten wir am liebsten fragen ... Wir selbst wissen, was wir mit welcher Mühe immer wieder versucht haben „’rüberzubringen“. Nichts ist mehr da! Also muss etwas geschehen!
Daher versuchen wir immer einmal wieder, Schüler zu motivieren, sich selbst Noten zu geben.
Das kann in verschiedenen Bereichen geschehen:
Am leichtesten geht es wohl bei der Mitarbeit.
Wesentlich schwierig ist es bei der Benotung von Klassenarbeiten, weil da Konkurrenzdruck, Neidgefühle, Angst – die üblichen Kopfbewohner also – meistens eine Selbstreflexion verhindern.
SchülerInnen wissen sehr wohl, dass es „gerechte“ Noten nicht geben kann. Zugleich möchten sie aber einen „objektiven Maßstab für die Bewertung haben.
Das Geschäft des Notenmachens soll der Lehrer besorgen ‑ dafür wird er ja bezahlt. Sich über die Noten zu beschweren gehört dann zum Spiel im Tauschmarkt „Schule“.
Das ist die Situation, die uns zu neuen Überlegungen motiviert. Wir müssen ja auch die eigenen Ängste überwinden: juristische Überlegungen, die Gaußsche Verteilungskurve, die Eltern, die anderen Kollegen, der Chef ...
Und natürlich kostet es anfangs, bis sich Schüler und Lehrer sicherer fühlen, viel Zeit: intensive, ernsthafte Gespräche mit den einzelnen Schülern – in unserer Freizeit?
Aber während des Unterrichts muss ich ja im Lehrplan weiterkommen, der Zeitdruck ist enorm, der 45-Minuten-Takt reißt alles auseinander usw.
Vor allem die schulische Ethik: Man verhandelt nicht über Noten. Man bettelt nicht um Noten. Noten macht der Lehrer – er muss sie ja – notfalls auch juristisch - verantworten.
Weiterhin: Was ist, wenn unser beruflicher Habitus von der Notenmacht bestimmt wird?

Es macht uns Lehrern Angst: Wir müssen uns von dem Machtsymbol „Notenbuch“ lösen, auch selbst über unsere Notengebung – und damit über unser Selbstverständnis - das berufliche wie das persönliche - reflektieren und unsere Entscheidungen professionell vertreten.

Unsere Überlegungen

Ein guter Schulabschluss ist schon lange kein Garant mehr für eine aussichtsreiche Karriere. Selbst ein Abiturient mit ausgezeichnetem Notendurchschnitt muss eine gehörige Portion Kompromissbereitschaft, Ausdauer und Flexibilität mitbringen, um auf dem hart umkämpften Ausbildungs- und Arbeitsmarkt die Chance zu haben, sich wenigstens in einem gewissen Grade selbst zu verwirklichen.
Wer es stets gewohnt war, für seine Leistungen mit guten Zensuren entsprechend belohnt zu werden, wird sich nach der Schulzeit eine ganze Weile lang ungerecht behandelt vorkommen. Schließlich hat man sich seinen Abschluss hart erarbeitet und damit auch den Anspruch auf eine erfolgreiche Zukunft. Ausgerechnet jetzt, wo es endlich um wichtige Entscheidungen geht, soll das jahrelang geübte Tauschgeschäft „Leistung gegen Anerkennung“ plötzlich ungültig geworden sein?
In diesem Moment entlarven sich die Zensuren als das, was sie sind, nämlich als rein abstrakte Konstrukte, deren Wert nur innerhalb eines engen Systems besteht.
Man hat sie durch mehr oder minder starken Arbeitsaufwand erhalten, manche hat man sich „wirklich verdient“, andere hat man „nachgeschmissen bekommen“, wieder andere hat man sich „ermogelt“. Aber immer stand ein Lehrer dahinter, der die Tests, Aufsätze und Klassenarbeiten gelesen und bewertet hat.
Mit Als-ob-Lernen bediente man den Tauschmarkt.
Die Mängel dieser Fremdbewertung werden erst deutlich, wenn die Jugendlichen das geschlossene System der Schule verlassen und alle bisherigen Sicherheiten auf einmal in Frage gestellt werden.
Plötzlich rächt sich die jahrelange Kritiklosigkeit gegenüber seinen eigenen Fähigkeiten, denn die Devise lautet jetzt nicht mehr „Was bekomme ich für meine Leistungen?“, sondern „Was kann ich? - Was kann ich nicht?“
Die Taktiken und Strategien, mit denen man in der Schule Erfolg und Anerkennung erlangte, sind außerhalb des Systems nur dann von Nutzen, wenn sie sich auf der Gewissheit der eigenen Stärken und Schwächen gründen.
Dafür bedarf es jedoch der Fähigkeit der Selbstbewertung, die dem Schüler in seiner langen Schulzeit in der Regel nicht beigebracht wird.
Wo kämen wir denn auch hin, wenn sich die Schüler auf einmal selbst die Noten geben dürften?!
Wer allerdings dem Schüler die Kompetenz, sich selbst zu bewerten, abspricht, der muss auch das Urteil des Lehrers hinterfragen.
Denn was macht eigentlich die sogenannte „Objektivität“
einer Zensur aus?
Die Erwartungen des Lehrenden sind schließlich genauso ein Konstrukt nach subjektiven Kriterien und Maßstäben wie das Bildungsprodukt des Lernenden.
Demnach ist es weder möglich, dass der Lehrende seine Strukturen denen des Lernenden überordnet, noch geht es umgekehrt.
Ein Konsens ist dann möglich, wenn in einem sachbezogenen Diskurs gleichberechtigte Verständigung an die Stelle des Machtverhältnisses tritt.
Die Notengebung ist dann eine gemeinsame Aufgabe von Lernendem und Lehrendem, ein gemeinsames Konstrukt in einem konsensuellen Bereich: Jeder legt seinen Referenzrahmen, seine Logiken und seine Kriterien offen.
Damit es dazu kommen kann, ist es notwendig, z. B. vor einer Klassenarbeit spezifische Rahmenbedingungen miteinander zu vereinbaren.
Auch hier können im Diskurs zwischen Lehrer und Klasse über Kriterien und Maßstäbe einer Bewertung unterschiedliche Strukturen miteinander vereinbart werden.
Dabei fließen Erfahrungen aus vergangenen Arbeiten und Projekten mit ein.
Variable Rahmenbedingungen sorgen dafür, dass die Art der Leistungsbewertung mit der Entwicklung von Lehrenden und Lernenden Schritt hält.
Gleichzeitig erfordern sie Kreativität und Flexibilität sowohl beim Aufgabenstellen als auch beim Lösen.
Die Lernenden können sich auf die erforderlichen Umstände gezielt einstellen, da sie die Verantwortung dafür mit übernommen haben.
Eine „0-8-15-Vorbereitung“, die sich meistens einstellt, wenn die Schüler die Methoden des Lehrers einmal kennengelernt haben und damit kalkulieren, ist nicht mehr möglich.
Nicht Anpassung, sondern Leistung geht also der gemeinsamen Konstruktion der Note durch Lehrer und Schüler voraus.
Dabei wird es nötig sein, im Rahmen der gemeinsam aufgestellten Rahmenbedingungen den eigenen Standpunkt zu gewinnen und ihn argumentativ zu vertreten.
Grundlage ist dabei immer nur die „Sache“, also das entsprechende Bildungsprodukt; es geht weder um „Bettelei“ noch um „Feilschen“, sondern um authentische Leistung und um die Art und Weise, sie zu bewerten.
Die gemeinsame Notengebung kann nur auf beiderseitigem Einverständnis beruhen und erfordert dadurch ein erhöhtes Maß an Sachlichkeit.
Auch ein problematisches Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern kann bei dieser sachbezogenen Auseinandersetzung in den Hintergrund treten.
Noten bekommen also ihre Bedeutung nicht mehr in - heteronomer - Konkurrenz mit anderen Schülern, sondern sie entwickeln sich autonom in Konkurrenz des Schülers mit sich selbst, in seiner Eigenverantwortung.
Wer gezwungen ist, sich mit seinen eigenen Leistungen auseinanderzusetzen, entwickelt allmählich ein ganzheitliches Verständnis für seine Fehler und Schwächen und gerade dadurch auch für seine Stärken.

Er nimmt seine Note nicht einfach an, sondern er kann sich mit seiner Leistung identifizieren.

Da der Weg dazu über den Diskurs läuft, lernt er darüber hinaus, professionell über sich selbst zu sprechen - eine Fähigkeit, die auf dem Weg ins Berufsleben ein entscheidender Vorteil sein kann.

Sapere aude!

Habe den Mut, dich selbst zu bewerten.

 

Unsere Erfahrungen

Anstrengend, aber es lohnt sich. Unsere Beziehung wird echter. Wir sind Mit-Arbeiter an einer Sache. Es geht um wirkliches Lernen, vor allem und Persönlichkeitsentwicklung.
Auch das geht nicht immer- Der Tauschmarkt fordert seinen Tribut.
Nicht immer klappt es: nicht mit jeder Klasse – nicht bei jeder Arbeit. Aber wir versuchen es immer wieder. Wir spüren, dass die Ängste bei Lehrern wie bei Schülern weniger werden:Wir entscheiden, in welchem Rahmen wir wie miteinander umgehen.
Und die Schüler übernehmen Verantwortung für ihr Lernen. Sie können merken: Es lohnt sich, wirklich zu lernen. Das motiviert wiederum die Lehrer.

Weitere Gedanken zum Thema „Leistungs-Bewertung“

  • Die Schule hält nicht mehr, was sie verspricht.(Die Tauschmarkt-Grundlage ist nicht mehr gesichert)
  • Noten müssen als Tauschwerte verstanden („entlarvt“) und damit auch ent-moralisiert werden.
  • Schüler sind mehr denn je darauf angewiesen, zu wissen, wie sie sich selbst einschätzen können:

  • Selbststeuerung, Selbstorganisation, Selbstbewertung, Selbstreflexion, Selbstverantwortung
  • Konkurrenzdenken nicht mehr irrational, sondern sachlich, nicht heteronom, sondern autonom

  • Vertragsarbeit
  • Auseinandersetzung Ich-Sache, und nicht mehr Ich-Lehrer bzw. Ich-Gruppe

  • Kommunikation auf gleicher Ebene

  • über sich selbst als Profi sprechen
  • andere Ansätze vermitteln können

  • Dem didaktischen Relativismus gerecht werden
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