Schule - ein „reality game“?
Was hat "Schule" mit "Spiel" gemeinsam?
Nehmen wir einmal an, die Schule sei ein „Reality Game“:
Interessante Gedanken und Anregungen einer Abiturientin
Sehr geehrter Herr Direktor, liebe Lehrer, Eltern und Mitschüler, liebe Gäste!
Homo Ludens, der Mensch ist ein Spieler, sagte Schiller.
Gehen wir also doch einmal von der Annahme aus, es gäbe ein Spiel mit dem Namen „Schule“.
„Schule“ wäre dann ein Strategiespiel, das eine gewisse Portion Durchhaltevermögen, Intelligenz, Konzentration und auch etwas Taktik erfordert, was jedoch zum Teil auch während des Spiels erlernt werden kann.
Schule ist ein Spiel für beliebig viele Spieler ab 6 Jahren.
Für Spieler ab ca. 10 Jahren gibt es die Ergänzungssets in 3 verschiedenen Schwierigkeitsgraden.
Die vorliegende Anleitung entspricht dem Schwierigkeitsgrad „Gymnasium“ mit Spieldauer 9 Jahre!
Ziel des Spiels ist das Bestehen der Reifeprüfung.
Die Spieler beginnen in der Regel bei Stufe 5 und können jedes Jahr, bei Erreichen der nötigen Punktzahl, eine Runde weiter spielen.
Die Punktzahl der einzelnen Spieler wird anhand von Wissensfragen ermittelt, die in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen während des Spiels gestellt werden.
Nach jeder Runde erhält der Spieler seinen Zwischenstand, der Auskunft darüber gibt, ob er in die nächste Runde eintreten darf oder nicht. Es ist möglich, einzelne Runden zu wiederholen. Grundsätzlich ist zu beachten, dass die Spieler gegen-einander und nicht mit-einander zu spielen haben. (Was zwar in den Regeln festgesetzt, aber von den Spielern bekanntermaßen oft nicht eingehalten wird - diese interne Information ist auch den Spielleitern, d. h. den Lehrern bekannt.)
Sinn des Spiels ist es ironischerweise, fürs Leben und nicht für die Schule gelernt zu haben, um an dieser Stelle, wie es sich für einen Abiturienten gehört, wenigstens einen alten Griechen zu zitieren!
Dies wird nach Ablauf der Spielzeit in der sogenannten Reifeprüfung, dem Abitur, noch einmal mit Punkten und Wissensfragen auf den behandelten Fachgebieten der Spieler, überprüft werden.
Wir Abiturienten haben diese Prüfung bestanden und somit das Spiel „Schule“ gewonnen. Aber was haben wir wirklich gewonnen, was wirklich fürs Leben gelernt?
Dass wir uns einpassen sollen in ein Muster, dessen Regeln bis ins Detail vorgegeben werden, in dem wenig Raum bleibt selbst zu entscheiden?
Dass wir uns einzuordnen haben in dieses „Jeder gegen jeden“-Spiel, in dem der Bessere gewinnt und ein Versager ausscheidet? In dem Wissen allein entscheidet über Lebensfähigkeit oder Unfähigkeit? Vielleicht etwa sogar, dass die Fakten, die wir 9 Jahre lang auswendig gelernt oder abgeschrieben haben, die Quintessenz dessen wären, was wir fürs Leben brauchen? Dass der Grad der Allgemeinbildung oder die Fähigkeit zum mathematischen Denken die einzige Meßlatte für die Lebensfähigkeit und Reife eines Menschen ist?
So oft schon wurde das System „Schule“ gerade in Abiturientenreden kritisiert und so oft schon die Frage aufgeworfen, ob uns die Schule wirklich auf das Leben vorbereitet. Ich aber möchte sie heute Abend, zumindest für mich, mit einem - wenn auch nicht uneingeschränkten - JA beantworten.
Lassen Sie mich die Behauptung aufstellen, dass der Unterricht an sich, beziehungsweise der in diesem Rahmen vermittelte und abgefragte Stoff, nicht primär das Agieren nach den Spielregeln das Lernen in der Schule ausmacht.
Wir haben irgend etwas gelernt, das steht fest, vielleicht nicht immer auf direktem Wege durch die Schule, möglicherweise aber in der Auseinandersetzung mit ihr. Durchaus kann Unterrichtsstoff, seien es geschichtliche Themen, biologische Erkenntnisse oder die Gedanken eines Philosophen zum Denken anregen, das möchte ich nicht abstreiten.
Trotzdem möchte ich die Frage in den Raum stellen, ob es nicht sinnvoll wäre, mit Blick auf die freie Wirtschaft und den Erwartungen an Abiturienten, die Inhalte der Lehrpläne oder auch die Lehrmethoden zu überdenken.
Ein Ansatzpunkt wäre für mich zum Beispiel die Einführung der Informatik als Pflichtfach.
Doch zurück zum Spiel.
Zwischen dem Unterricht, mit all seinen Regeln und Verpflichtungen, läuft noch ein zweites Spiel, das mir wesentlich wichtiger erscheint als die eigentliche Schule.
Gewissermaßen „zwischen den Regeln“ habe ich in diesen 9 Jahren vermutlich mehr gelernt als in den eigentliche Unterrichtsstunden. Denn auf pure Wissensvermittlung und Wissensspeicherung kann und darf es im Zeitalter der Information, gerade auch mit Blick auf das Internet, nicht ankommen.
Wie sagte Schopenhauer schon so schön: Zu verlangen, dass einer alles, was er je gelesen, behalten haben sollte, ist wie verlangen, dass er alles, was er je gegessen hat, noch in sich trage.
Aber durch die Wissensvermittlung in der Schule hatten wir die Gelegenheit, uns mit Themen auseinanderzusetzen, was uns manchmal mehr, manchmal weniger interessiert oder Spaß gemacht hat, manchmal mehr, manchmal weniger schwer gefallen ist.
Viele dieser Themen hätten wir alleine nie in Angriff genommen. An diesen Forderungen konnten wir wachsen und unsere Fähigkeiten, Grenzen und Vorlieben entdecken. Wir hatten die Gelegenheit, Freunde oder Feinde zu gewinnen,
Wir hatten die Chance, Meinungen auszutauschen mit Schülern wie mit Lehrern, diverse Differenzen auszudiskutieren und wenn möglich zu einer Lösung zu gelangen. Wenn wir wollten, wurden wir kritik- und konfliktfähig, Gelegenheit bot auch das System. Irgendwann haben wir auch alle gespürt, dass vieles nur gemeinsam machbar ist und alle in gewisser Weise aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind. Und wir konnten lernen, uns innerhalb von Spielregeln, Freiräume zu schaffen oder zu erkämpfen, innerhalb eines Systems zu handeln.
Auch wenn es uns, zum Leidwesen mancher Lehrer, mit nahendem Spielzeitende immer schwerer fiel, gewisse Regeln nicht außer Acht zu lassen, so dass wir schon mal mit Sätzen wie: „Wisst ihr nimmer, wie Schule geht?“ an deren Einhaltung erinnert werden mussten.
Das Spiel ist zu Ende, die Punkte gesammelt.
Auf der Strecke bis hierher gab es nicht immer nur Gewinner. Kleine persönliche Niederlagen musste jeder einmal einstecken, sei es eine versiebte Klausur, ein versenkter Kurs oder sonstige nicht erreichte Ziele, die man sich in so mancher Euphorie gesteckt hatte.
So haben wir - vielleicht alle - auch eines noch gelernt: Teiletappen zu verlieren. Manch einer ist leider ganz ausgeschieden.
Letztendlich ging es bei dem Spiel „Schule“ aber vielleicht gar nicht um Punkte und Noten, die doch nie das ausdrücken können, was wir in den 9 Jahren hier und den 13 Jahren insgesamt gelernt und erlebt haben.
Deshalb möchte ich betonen, dass zu einem Spiel immer eine Portion Glück gehört und dass Noten und Preise allein nichts über die Qualitäten und persönlichen Werte eines Menschen aussagen.
Mit all diesen Eigenschaften ausgestattet, der Fähigkeit zu verlieren, dem bisschen Anpassungsvermögen, dem Freiheitsdrang, den wir erst durch das Regeln-gesetzt-Bekommen spürten, der Team , Kritik und Konfliktfähigkeit, stehen wir heute Abend alle als Sieger im Kampf gegen die nicht immer sinnvollen Anforderungen da.
So könnte man sagen, schauen wir mit einem lachenden und weinenden Auge, aber mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf die letzten Jahre zurück,
Wir werden weiter spielen, „’cause we are all actors, everyone is playing his role”. Wir sind alle Schau-Spieler, wenn wir Shakespeare glauben dürfen - Jeder spielt seine Rolle.
Deshalb möchte ich mir zum Abschluss eines noch von unseren Lehrern wünschen: Dass sie uns die Daumen drücken für unser nächstes Spiel:
Den „Ernst des Lebens!“
Petra Hitzelberger
Abiturrede 1999, NKG Mosbach